Fahnen vor der ITB in Berlin - es bleibt windig © Messe Berlin

Je reicher, desto Ferien?
Gedanken zur ITB 2023

Kommentar: Jürgen Drensek

Pünktlich zum ITB Start Schmuddelwetter in Berlin. Für die Tourismus Industrie ist das ja traditionell ein gutes Omen: je grauer die Umgebung, desto strahlender die Urlaubs-Verheissung. Und Optimismus ist dieses Jahr ohnehin zur Industrie-Räson verordnet worden. 

Die positiven Standmeldungen zur Reiselust überschwemmen gerade den Posteingang. Dieses Jahr wird wieder an die Vor-Corona-Zeiten andocken. Steil angestiegen in den Reisebüros sei die Buchungskurve schon seit dem Dezember, jubiliert stellvertretend für alle der Deutsche Reiseverband DRV, Pauschalreisen und Kreuzfahrt seien auf dem Weg zu alter Stärke.

Dabei ist das Wichtigste im Satz die Einschränkung: auf dem Weg. Denn auch, wenn sich der Sommersaison-Umsatz wieder auf eine Geld-Summe Richtung 2019 zusammen-addieren lassen sollte – ist das doch angesichts der Teuerung seit 2020 in Wahrheit ein Minus. Denn vor allem bei den Teilnehmerzahlen im organisierten Tourismus gibt es nach wie vor eine signifikante Lücke zur Reiselust 2019.

Dem so demokratischen Massenphänomen Urlaub droht, durch Corona und Inflation und Zukunftsangst in eine Urlaubs-Klassengesellschaft auseinander zu brechen. Je wohlhabender, desto Ferien. Da nützt es auch gar nichts, wenn Deutschland sich – denn für den Titel kann sich niemand etwas kaufen – das volkswirtschaftliche Siegertreppchen des Reiseweltmeisters zurückerobert.

Von daher ist der Buchungs-Run der letzten Monate auch eine kleine statistische Nebelkerze. Es waren die Buchungswochen mit den besonders lukrativen Early-Bird-Angeboten. Die letzte Gelegenheit vor allem für viele Familien, da noch einmal zuzuschlagen, bevor die Briefe mit den neuen Strom-, und Gas-, oder Öl-Abschlagszahlungen die Urlaubslaune erst einmal gehörig vermiesen. Mit den Einnahmen lässt sich allerdings ehrlicherweise noch nichts verdienen. Sie sind wirtschaftlich gesehen Beimischungen für die Fixkosten. Gewinne in einer eh chronisch Margen-schwachen Industrie erwirtschaftet man nur mit den Vollzahlern. Gar nicht mal so sehr mit den arbeitsintensiven Luxus-Urlaubern; selbst, wenn ihr Gesamt-Budget äußerst kommod ist. Nein, für eine gut geölte Maschinerie der organisierten Landverschickung braucht es die Standard-Reisenden in den konfektionierten Resorts am Strand. Ab der gehobenen Mittelklasse mit nicht zu viel Extra-Wünschen. Ja, an All Inclusive wird man gerade jetzt überhaupt nicht mehr vorbei kommen, aber mit der Hoffnung, dass doch vor Ort noch etliche Euro in den Kreislauf gepumpt werden für das Urlaubsglück.

Und genau hier sind wir zu Beginn der ITB noch in der Glaskugel-Phase. Was man heute sagen kann: ja, es wird – keine weiteren Katastrophen, Keime oder Kriegs-Zuspitzungen vorausgesetzt – wohl ein ordentliches Tourismusjahr. In der Gesamtsicht, also auch inkludiert der selbst organisierten Reisen außerhalb des Pauschal-Universums. Aber bei den Veranstaltern ist längst noch nicht alles in trockenen Tüchern. Vor allem nicht vor dem Hintergrund der drückenden Schuldenlast, die immer noch generöse Wohlfühl-Goodies verhindert als Buchungsanreiz. Ganz unbeschadet von dem nach wie vor schmerzlichen Arbeitskräftemangel im Tourismus weltweit.

Dazu droht die Schimäre am Horizont, es würde tatsächlich ein entspannter Flugsommer. Ohne Chaos an den Flughäfen bei Check-In, Security und Gepäck, ohne brutal kurzfristige Flugstreichungen bzw. Zusammenlegungen mit deutlichen Komforteinbußen für den Reisenden und Stress vor allem für die Familien.

Nein, der Reisesommer 2023 ist noch lange nicht ein entspannter Selbstläufer. Und nur wirklich unverbesserliche Optimisten glauben daran, dass dieses, oder allenfalls nächstes Jahr das Motto haben könnte „business as usual“. Von wegen. Corona hat auch im gesellschaftlichen Bewusstsein eine Zäsur geschlagen. Es wird – jetzt mal aus westlicher Perspektive analysiert – bei den Reise-Beweggründen einen Wandel geben. Umweltschutz zum Beispiel wird nach all dem Gewürge der letzten Jahrzehnte zwangsläufig eine viel größere Rolle spielen – allerdings als Bringschuld der Industrie mit Kosten, die nicht einfach durchgereicht werden können zum Verbraucher. Das digitale Nomadentum oder auch die Workation wird einiges ersetzen im alt hergebrachten Business-Meeting-Markt mit seinen vielen aus heutiger Sicht und Gefühlslage unnötigen, aber für die Reise-Industrie lukrativen, Kosten-Girlanden.

Das Internet wird immer mehr zum eigentlichen Entscheider bei der Recherche, und Reisebüros – gerade noch mit neuem Selbstbewusstsein als Krisen-Beschützer – werden nur überleben, wenn sie konsequent mitspielen und sich integrieren in Social Media und kluger Kundendaten-Auswertung. 

Von daher hat die ITB 2023 eine angenehm bescheidene Headline: Open for Change. Und der Begleitkongress geht noch weiter: „Mastering Transformation“. Denn die neue Normalität des Reisens hat noch gar nicht angefangen.

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